Es kursieren viele Mythen über die Verkehrswende, die wir in unserer neuen Reihe einem Faktencheck unterziehen wollen.
Mythos 1: Weniger Autoverkehr schadet dem Einzelhandel
Kaum ein Argument taucht in der Debatte um die Verkehrswende so häufig auf wie dieses: Wenn Parkplätze wegfallen und Straßen für Autos gesperrt oder beruhigt werden, würde der Einzelhandel leiden. Doch die Forschung und viele Praxisbeispiele zeigen ein anderes Bild.
Woher der Mythos kommt
Autos gelten seit Jahrzehnten als Garant für Kundschaft. Händler:innen vermuten oft, dass ein Großteil ihrer Umsätze von Autofahrenden abhängt. Diese Wahrnehmung verstärkt sich, wenn Läden wegen Umsatzeinbußen schließen müssen. In Lüneburg machten kurioserweise gerade Eigentümer:innen von Geschäften, die über Parkplätze fast unmittelbar vor der Ladentür verfügten, wie das Bekleidungsgeschäft Sellnau in der Bardowicker Straße, die Verkehrswende für ihr Ladensterben verantwortlich.

Was Studien sagen
Händler:innen überschätzen den Anteil der Kundschaft, die mit dem Auto kommt (1)(2). In vielen europäischen Städten liegt der Anteil der Autokundschaft im innerstädtischen Handel bei nur 10 bis 30 Prozent. Der Großteil des Umsatzes der innerstädtischen Geschäfte wird mit Kund:innen erzielt, die gar nicht mit dem Auto anreisen (3). Fußgänger:innen, Radfahrende und ÖPNV-Nutzende geben in Summe mehr Geld aus, weil sie häufiger einkaufen. So zeigen Kundenbefragungen, dass radfahrende Kund:innen zwar je Einkauf weniger Geld ausgeben als diejenigen, die mit dem Auto anreisen, dieses jedoch durch eine höhere Einkaufsfrequenz wieder wettmachen. Aufs Jahr gerechnet bewirken sie dadurch weit höhere Umsätze als Kund:innen mit Auto. So kam eine breite Studie am Beispiel von 8 deutschen Städten zu dem Ergebnis, dass die zu Fuß gehenden Kund:innen beim Umsatz mit durchschnittlich 762 € pro Jahr deutlich vorn liegen, an zweiter Stelle finden sich ÖV‐Anreisende mit 598 € Umsatz pro Jahr, gefolgt von den Radfahrenden mit 569 € Umsatz pro Jahr. Kfz‐Anreisende stehen mit 477 € Umsatz pro Jahr an letzter Stelle (3).
Deutlich ist auch: Verkehrsberuhigung ist grundsätzlich gut für den Einzelhandel. Eine bessere Aufenthaltsqualität und höhere Kund:innenfrequenzen führen meist zu einer Stabilisierung bzw. Steigerung der Umsätze und nach Verkehrsberuhigung, der Einrichtung von Fußgängerzonen oder einer Verbesserung der Radinfrastruktur steigen die Umsätze in den meisten Fällen – oft deutlich (2)(4)(5). Auch die Annahme, dass der Einzelhandel von Straßenparkplätzen im direkten Umfeld eines Geschäfts profitiere, ist irrig. Im Gegenteil zeigen Studien, dass eine hohe Anzahl von Straßenparkplätzen im Umkreis von 100 Metern den Mietwert einer Gewerbeimmobilie senkt, während Parkmöglichkeiten im erweiterten Umkreis von 100 bis 500 Metern den Mietpreis positiv beeinflussen. Geschäftsflächen gewinnen demnach an Wert, wenn die unmittelbare Umgebung nicht von parkenden Autos geprägt wird, gleichzeitig aber genügend Parkplätze in fußläufiger Entfernung verfügbar sind (2) – so wie es auch in Lüneburg durch viele Parkhäuser in der Innenstadt gegeben ist. Denn eine angenehme Aufenthaltsqualität lockt mehr Menschen in Geschäfte, die eher konsumieren. Breitere Gehwege, Außengastronomie oder Bäume tragen dazu bei. Mit geeigneten Maßnahmen und Investitionen in den Radverkehr können Städte und Gemeinden ihre Attraktivität und Aufenthaltsqualität deutlich verbessern (4).
Der Einzelhandel profitiert auch bei der Personalgewinnung: Lebensqualität und ein hochwertiges Angebot im Umweltverbund sind für die überwiegende Zahl der Unternehmen wichtige Standortfaktoren, da sie besonders von jungen, gut ausgebildeten Fachkräften besonders geschätzt werden und Arbeitgeber:innen einen Vorsprung im überregionalen Arbeitsmarkt verschaffen (4).

Der eigentliche Wettbewerbsvorteil
Dass der Umsatz im stationären Einzelhandel seit Jahren zurückgeht, hat vielfältige und ganz andere Ursachen als die Verkehrswende, nämlich vielmehr die zunehmende Konkurrenz mit dem Onlinehandel, hohe Ladenmieten und die Inflation. Was die Innenstädte stark macht, ist nicht die Zahl der Parkplätze, sondern die Aufenthaltsqualität: kurze Wege, Sicherheit, Begrünung, kulturelle Angebote (2)(6). Genau das fördert die Verkehrswende.
Für Lüneburg zeigte kürzlich eine Studie des Instituts für Handelsforschung in Köln (IFH), dass die Aufenthaltsqualität im Vergleich zu anderen Städten gleicher Größe überdurchschnittlich ist und einzig bei der Stadtbegrünung hinter den Durchschnitt zurückfällt. Um Innenstadtbesuche attraktiver zu gestalten, spielen Parkmöglichkeiten als Erfolgsfaktor laut der Studie überhaupt keine Rolle, stattdessen werden von Besucher:innen eine weitere Verbesserung des öffentlichen Toilettenangebots, die weitere Umgestaltung zu einer grünen Innenstadt und Maßnahmen gegen Leerstand gewünscht (5).
Fazit
Der Mythos, weniger Autoverkehr schade dem Einzelhandel, hält einer Faktenprüfung nicht stand. Im Gegenteil: Verkehrsberuhigung, mehr Platz für Rad- und Fußverkehr und eine höhere Aufenthaltsqualität stärken die Attraktivität der Innenstädte und damit auch die Umsätze. Wer Handel fördern will, sollte also nicht am Auto festhalten, sondern die Stadt lebenswerter machen.
Quellen:
- von Schneidemesser, Dirk, and Jody Betzien. 2021. “Local Business Perception vs. Mobility Behavior of Shoppers: A Survey from Berlin.” Findings, June. https://doi.org/10.32866/001c.24497; Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (Research Institute for Sustainability, RIFS) des Helmholtz-Zentrums für Geoforschung, Potsdam, „Mobilität beim Einkaufen: Händler überschätzen Rolle des Autos“ https://www.iass-potsdam.de/de/news/mobilitaet-beim-einkaufen-haendler-ueberschaetzen-rolle-des-autos
- Bauer, Christ, Sönksen, Pfitzinger. 2025. „Dann wird’s laut“ – Deutsches Institut für Urbanistik Policy Papers 5, difu 03/2025 https://www.die-stadtretter.de/wp-content/uploads/2025/04/Difu_Policy_Papers_2025-5_Verkehrsberuhigung_Einzelhandel.pdf
- Große, Böhmer (Fachbereich Verkehrs‐ und Transportwesen, Fachhochschule Erfurt). 2019. „Radverkehr in Fußgängerzonen“ Endbericht für das Forschungsprojekt „Mit dem Rad zum Einkauf in die Innenstadt – Konflikte und Potenziale bei der Öffnung von Fußgängerzonen für den Radverkehr“ https://www.mobilitaetsforum.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Projekte/17753_Mit-dem-Rad-einkaufen_Endbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2
- Bundesministerium für Digitales und Verkehr. 2022. Nationaler Radverkehrsplan 3.0. https://www.bmv.de/SharedDocs/DE/Anlage/StV/nationaler-radverkehrsplan-3-0.pdf?__blob=publicationFile
- Arancibia, Farber, Savan, Verlinden, Smith Lea, Allen, Vernich. 2019. „Measuring the Local Economic Impacts of Replacing On-Street Parking With Bike Lanes – A Toronto (Canada) Case Study“ https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/01944363.2019.1638816?scroll=top&needAccess=true)
- Preißner (IFH). 2025. „Studie Vitale Innenstädte 2024 – Faktenwissen und Handlungsleitfaden zur Vitalisierung von Innenstädten“ https://www.ifhkoeln.de/produkt/vitale-innenstaedte-2024-2/